Lit-Tipp: ...für den großen Hunger zwischendurch
Haruki Murakami: Gefährliche Geliebte. München: btb 2002.
Big in Japan: Große Gefühle. Große Einsichten. Großartig erzählt.
Murakami ermöglicht in starken Bildern Inneneinsichten in den Ich-Erzähler Hajime, man
begleitet ihn bei der Mann-Werdung und begreift mal wieder, dass Träume und das
Ausleben der großen Liebe in der Bedürfnis-Pyramide sehr unterschiedlich priorisiert
werden. Maslows Pyramide wird in der Wissenschaft herangezogen, um uns menschliche
(Kauf)entscheidungen zu erklären: Erst wenn der Mensch satt und sicher ist, kümmert er
sich stufenweise um sozialen Kontakt, Luxus und Selbstverwirklichung. Murakami zäumt
die Geschichte andersherum auf: er zeigt, wie sehr alle Lebensbereiche in Mitleidenschaft
gezogen werden können, wenn die "Luxusgüter" leidenschaftliche Liebe und tiefes
Verständnis fehlen, auch wenn alle basalen Bedürfnisse nach Nahrung und Wärme befriedigt
sind. Dieser Mangel definiert dann das Vorhandene und den gesamten Menschen. Das Einzelkind
Hajime hat dieses tiefe Verständnis nur ein Mal im Alter von 12 erlebt und hängt – wie jene
Seelenfreundin Shimamoto umgekehrt auch – dieser Erfahrung des wechselseitigen Erkennens
lebenslänglich hinterher. Als sie sich nach über zwanzig Jahren wieder begegnen, gerät alles
aus den Fugen. Die Macht, die Liebe hat, wenn die Sehnsucht zugelassen wird, wird in diesem
sehr speziellen Roman genauso plastisch wie die Verletzungen, die sie erzeugen kann. Das
große Gefühl (zu zweit ausgelebt oder in Form von Sehnsucht als Lebensantrieb zugelassen)
wird eindrücklich als die höchste Stufe des Lebens geschildert. Schatten wirft das
große Gefühl nur, das klingt lotuszart an, wenn es durch Idealisierung des fernen Großen
(der Geliebten Shimamoto) den Blick auf Naheliegendes (wie zum Beispiel auf die versteckten
Facetten der Ehefrau) verstellt. Und so muss der Leser, wenn er nach gut zweihundert Seiten
viel zu früh aus der sehr fesselnden, fernen fernöstlichen Welt Murakamis vertrieben wird,
seine eigene Bedürfnispyramide Stein für Stein aufschichten. Auch die offen gebliebene Frage,
ob das große Gefühl die Distanz und Unsicherheit als Nährboden braucht oder ob es auch in der
Nähe überlebt und gedeiht, muss er dann ganz für sich alleine beantworten.
(Nic 05.03.2006)
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