Lit-Tipp: für alle (außer für Sockelhiever-Sozis)
Lars Brandt: Andenken. München, Wien: Hanser 2006.
Willy wählen? Lars lesen!
Willy Brandts Sohn Lars versucht, den Menschen und Vater zu ergründen, indem er sich
(und uns) Sequenzen aus dem (Zusammen- vor allem aber Getrennt)-Leben mit dem
70er Jahre-Idol aus der Erinnerung holt. Anhand dieser schnörkellos und präzise
erzählten Geschichtchen begreift man die schwierige Persönlichkeit Willy Brandts ein
wenig besser.
Da Lars nicht mit dem Mythos abrechnet, sondern eher Bilder abgleicht
– da er nicht holzschnittartig, sondern (vielleicht?) unvollendet-pointillistisch vorgeht,
entsteht ein kluges Portrait von Willy Brandt, den Lars im Buch nur nennt, kurz für "V".
Die Abkürzung ist ein gutes Sinnbild für die Sprachlosigkeit, die im Hause Brandt oft geherrscht haben muss.
Man erhält aus dieser privaten Ansicht heraus Hinweise darauf, wie Guillaume überhaupt
so gefährlich werden konnte (Brandts Ungeschicklichkeit bei der Auswahl von Weggefährten
sei auf seine Ignoranz, Distanz und Arroganz zurückzuführen) – man erkennt den Respekt
und die Verbundenheit zu seinem Sohn (beim gemeinsamen Angeln oder Redigieren von Brandts Werken),
aber man spürt auch die Angst, die der Politiker vor einem Zuviel an Nähe gehabt haben
muss. Die depressiven Seiten des Friedensnobelpreisträgers klingen genauso an ("Meistens
war er zum Mitlachen aufgelegt, schon weil hinter der nächsten Ecke immer auch die Schwermut
lauerte", S. 20) wie seine Angst vor Unmittelbarkeit. In Menschenmengen habe er sich am
wohlsten gefühlt. Erfolg hatte er, so Lars Brandt, weil er ein "Durchlauferhitzer
fremder Empfindu" (S. 18) war. Das war der Deal: Die Menschen wählten ihn, weil er eine
Projektionsfläche ihrer eigenen Sehnsüchte war und er stellte sich in ihren Dienst, weil
sie ihm ein weiteres Spiegelbild gaben. Je mehr Spiegelbilder, desto weniger war es notwendig, ein
einziges echtes Spiegelbild zu polieren und konsistent zu halten. "Hätte man diesen
Menschen von seinen Widersprüchen befreien wollen, wäre wenig von ihm übriggeblieben.
[...] Die Widersprüche aber binden die so uneinheitlich bunten Steine erst zusammen. Sogar goldene
sind darunter. Will man ihr Schimmern wahrnehmen, muß man das Heterogene, Gebrochene, den inneren
Gegensatz als Batterie begreifen, zwischen deren Polen sich Spannung aufbaut." (S.21)
So liebevoll und lebensklug – so pointiert und poetisch – so gerecht und genau schreibt Lars Brandt.
Meine persönliche Wahlempfehlung (nicht nur für die, die damals Willy wählten): Lars lesen!
(Nic 05.03.2006)
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