Lit-Tipp: für Sucher schwindelerregenden Tiefgangs
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Aglaja VETERANYI: Warum das Kind in der Polenta kocht.
Kinderseelenstriptease ohne Netz und doppelten Boden
Ein Zirkusbesuch unterhält und entführt in fremde ferne Welten. Aber auf dem Heimweg klebt oft auch ein bitterer, schmuddeliger, schauriger Nachgeschmack an der Erinnerung fest. Die Jahrmarktmandeln schmecken plötzlich bitter und verbrannt. Das Spiel hinter den Kulissen ...die Tränen des Clowns in der Maske, das Unglück des dressierten Löwen. Diese bittere Abgang, wenn sich die Manege leert, ist vielleicht die Erahnung des hohen Preises, den das Artistenleben kostet: ewige Wanderschaft, interner Wettstreit im Ensemble, das Leben von, für und in Illusionen. Von all diesen Schattenseiten der Manegenscheinwerfer erzählt Aglaja Veteranyis Roman „Warum das Kind in der Polenta kocht“. Das kleine ich-erzählende Mädchen denkt viel über diese (Zirkus-)Welt nach, in die es gesetzt wurde, aber in der es seinen Platz nicht finden kann: zwischen der ständigen Todesangst um die Artistenmutter, den fiesen Geschäften des Vaters und den zermürbenden Familiendiskussionen um die verlassene rumänische Heimat.
Die kleine Ich-Erzählerin verarbeitet ihre Sorgen, Ängste und ihren Wissensdurst ganz für sich alleine und erklärt sich Gott und die Welt, so gut sie kann. Sie fügt Aufgeschnapptes, Erinnerungen, nächtlich Geträumtes und Bilder aus ihrer Umwelt zu ihrer eigenen außergewöhnlichen Weltsicht-Collage zusammen. „Totsein ist wie schlafen. Du legst den Körper aber nicht ins Bett, sondern in die Erde. Dann musst du Gott begründen, warum du lieber tot als lebendig sein willst. Wenn du ihn nicht überzeugst, löscht er dir das Gehirn aus, und du musst mit dem Leben wieder von vorne anfangen.“ (S. 61)
Ergreifende Motive graben sich ein. Die schnellgetaktete, geradlinige Sprache und das darauf abgestimmte Seitenlayout (häufige Seitenumbrüche, tiefgreifende Einsichten in Versalien) treiben den Leser in die kindlichen Empfindungen und halten ihn gebannt. Trotz (wegen!) der sprachlichen Reduktion spannend wie ein Seiltanz – Betrachtungen so bissig wie Zirkuslöwen – dieses Buch ist eine Eintrittskarte in die abgründige Manege einer geschundenen Kinderseele. Fest steht: Es lässt einen nicht ruhig auf dem bequemen Zuschauerstuhl im ersten Rang sitzen bleiben.
Den Applaus für ihre literarische Perle hört Aglaja Veteranyi leider nicht mehr. Die Autorin, die selbst einer rumänischen Artistenfamilie entstammt, wählte im Jahr 2002 den Abgang durch Freitod.
(nic 23.07.2006)
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